FÜNF   FAHRRÄDER

Ich besitze kein Auto, wohl aber fünf Fahrräder. Es handelt sich dabei nicht etwa um ein Rennrad, ein Mountain-Bike, ein Touringrad, ein Tandem und ein Hochrad als Spielzeuge eines Fahrradenthusiasten, sondern um fünf ganz normale Fahrräder für den Stadtverkehr, die jedoch an verschiedenen Orten stehen. Anhand meiner Fahrräder will ich davon berichten, was ich in den letzten zehn Jahren gemacht habe.

1999 zog ich nach Estland, um an der Universität Dorpat (estn. Tartu) am Historischen Seminar zu lehren. Die Universität war schon gegründet worden, bevor Fahrräder überhaupt erfunden wurden, und das gleich zweimal: 1632 von dem schwedischen König Gustav II. Adolf, 1802 noch einmal von dem russischen Zaren Alexander I., nachdem die Universität fast hundert Jahre lang geschlossen gewesen war. Finanziert wurde mein Aufenthalt von der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart. Gleich nach meiner Ankunft kaufte ich mir ein Fahrrad, mit dem ich sommers wie winters in die Stadt fahre. Damit weckte ich in den ersten Jahren ein wenig Aufsehen, denn Leute in meinem Alter fuhren kaum Fahrrad. Kinder benutzten Fahrräder und ältere Leute auch, aber die dazwischenliegende Generation in den Städten – nicht auf dem Land – war zu Sowjetzeiten auf Kollektivverkehr getrimmt worden. Da das Kollektive in Estland aber nie recht populär geworden war, gingen viele auch zu Fuß zur Arbeit, oft mehr als drei Kilometer. Mittlerweile hat sich das etwas geändert. Die Autos haben sich stark vermehrt, aber es sind auch zusätzliche Fahrradständer notwendig geworden. Im Winter steht mein Fahrrad dort nicht mehr ganz allein, aber viel Gesellschaft hat es im Schnee noch immer nicht bekommen.

Überhaupt sind die Generationsunterschiede in Estland größer als in Deutschland. Je nach Geburtsjahr wuchs man unter unterschiedlichen politischen Verhältnissen auf: 1918-1940 selbständige Republik, 1940-1941 sowjetische Besatzung, 1941-1944 deutsche Besatzung, 1944-1991 sowjetische Besatzung, danach wieder selbständige Republik. Generell fiel es denen, die 1991 noch keine 30 Jahre alt waren, am leichtesten, die sich rasant ändernden Verhältnisse zu bejahen, während viele ältere zwar formell die neuen Regeln befolgen, doch innerlich mehr den alten Verhaltensmustern verhaftet sind. Sie vertrauen persönlichen Beziehungen mehr als rechtsstaatlichen Verfahren, und auch die sogenannte Radfahrermentalität ist in diesen Kreisen häufiger anzutreffen: nach oben buckeln und nach unten treten.

Bald nach der Unabhängigkeit kamen in Estland sehr junge Leute an die Macht. Das betrifft nicht nur den Premierminister der Jahre 1992 bis 1994 und 1999 bis 2002, der mit 32 Jahren sein Amt antrat, sondern auch die Leiter vieler Institutionen. Das hatte den Vorteil, daß die Umstellung sehr zügig und konsequent durchgeführt wurde, hat jetzt allerdings den Nachteil, daß die noch jüngeren mehr als 30 Jahre warten müssen, bis die leitenden Stellen frei werden.

Mein Fahrradladen in Dorpat hat bisher das Serviceniveau bewahrt, das vor zehn Jahren allerorts anzutreffen war: Reparaturen werden sofort erledigt. Mittlerweile hat Estlands Verwestlichung auch auf diesem Gebiet um sich gegriffen. Immer häufiger werden Terminabsprachen nicht eingehalten, Handwerker haben keine Lust, für Kleinigkeiten zu kommen, Behörden sind mehr an professioneller PR-Arbeit als an der zügigen Erledigung ihrer Aufgaben interessiert, usw.

2002 erhielt ich eine vierjährige Anstellung an einer neugegründeten Hochschule in der Nähe von Stockholm, Södertörns högskola. Meine Arbeitsaufgaben bestanden im wesentlichen aus Forschung zum Baltikum. Als Frühneuzeithistoriker (16.-18. Jahrhundert) konnte ich mit der jungen Bibliothek dieser Hochschule nicht viel anfangen, aber da ich das geahnt hatte, hatte ich mir wohlweislich eine Wohnung in Uppsala besorgt, wo ich mehrere Jahre zuvor schon einige Zeit gelebt hatte. Die Universitätsbibliothek Uppsala ist die älteste wissenschaftliche Bibliothek Schwedens. Ihr erster Mäzen war der bereits genannte König Gustav II. Adolf. An meinem zweiten Tag in Uppsala kaufte ich mir Fahrrad Nr. 2.

Nach einem Jahr erhielt ich in Dorpat eine Gastprofessur für historische und vergleichende Volkskunde. Sie wurde von einer Instanz des Nordischen Ministerrats finanziert. Die Unterrichtsverpflichtungen waren überschaubar, doch hatten sie den Vorteil, daß die Gastprofessur meine Reisen zwischen Dorpat und Uppsala bezahlte, was meinen Forschungen zum Baltikum sehr entgegen kam, denn estnische Bibliotheken sind dafür besser ausgestattet als schwedische.

Anfang März 2008 kaufte ich mir mein drittes Fahrrad, und zwar in Kopenhagen. Die Carlsberg-Stiftung, der die gleichnamige Brauerei und viele andere Brauereien in der ganzen Welt gehören, finanziert mein Projekt „Die ersten 100 Jahre der Reformation auf Bornholm, Gotland und Oesel (bis 1645)“. In dieser Zeit gehörten alle drei Inseln zu Dänemark – Oesel (estn. Saaremaa) allerdings erst ab 1559.

In Kopenhagen mußte ich mich beim Fahrradfahren erst umstellen, denn dort herrscht ein ungewöhnlich dichter Fahrradverkehr. Auf vielen Straßen werden täglich mehr Personen auf Fahrrädern befördert als in Autos, und deshalb wurde auf der meistbefahrenen Straße (mehr als 30.000 Fahrräder pro Tag) die grüne Welle auf die Geschwindigkeit von Fahrrädern eingestellt statt auf die von Autos. An den Ampeln verzweigt sich der Radweg oft in gesonderte Spuren für Rechtsabbieger und Geradeausfahrer. Auf den Radwegen fahren rechts die langsamen Räder (z. B. die Lastfahrräder) und links die überholenden. Während man andernorts aufpassen muß, von keinem Auto überfahren zu werden, muß man sich in Kopenhagen darauf konzentrieren, Zusammenstöße mit anderen Fahrrädern zu vermeiden.

Auf Gotland gibt es mehr Kirchen als auf Bornholm und Oesel zusammen, und außerdem befinden sich die gotländischen Archivalien in Visby, während die Bornholmer und Oeseler Akten in Kopenhagen bzw. Dorpat aufbewahrt werden. Ich muß also relativ viel auf Gotland sein. Wenn ich jedesmal ein Fahrrad gemietet hätte, um die Kirchen besuchen zu können, deren Inventar zu meinem Quellenmaterial zählt, hätte das genauso viel gekostet wie ein neues Fahrrad. Also kaufte ich mir kurzerhand Fahrrad Nr. 4, das ich während meiner Abwesenheit bei einem Visbyer Kollegen unterstellen kann.

Fahrrad Nr. 1 benutze ich weiterhin, denn nicht nur muß ich für das Kopenhagener Projekt häufig in Dorpat arbeiten, sondern es läuft dort auch meine Stelle bei einem Sonderforschungsbereich an der Universitätsbibliothek auf Sparflamme weiter. Nur eine Strecke gehe ich in Dorpat zu Fuß: Der Weg über den Domberg zum Archiv ist sehr steil. Bergauf müßte ich schieben und bergab auch, denn die Straße ist mit unbehauenen Kopfsteinen gepflastert. Zu Fuß kann ich überdies besser die Inschrift über dem Eingang zum Dombergpark mit seinen alten Universitätsgebäuden goutieren: „Otium reficit vires“. Das könnte auch das Motto meiner jetzigen wissenschaftlichen Tätigkeit sein. Leider arbeitet man heute sonst an dänischen, estnischen und anderen europäischen Universitäten – Stichworte Bolognareform und Drittmittelfinanzierung – unter dem Diktat der Wirtschaftlichkeit. Zum kreativen Nachdenken fehlt die Muße. Kurz: negotium statt otium.

Ab und zu bin ich immer wieder in Uppsala, weil die Universitätsbibliothek viele Bücher und Handschriften über Gotland besitzt. Deshalb habe ich mich bisher nicht von meinem Fahrrad dort und von der Wohnung getrennt, auch wenn sie zwischendurch schon einmal vermietet waren.

Mein fünftes Fahrrad verdanke ich im wahrsten Sinne des Wortes dem Zufall. Vor den schleswig-holsteinischen Kommunalwahlen im Frühjahr 2008 veranstaltete eine Partei eine Reihe von Preisausschreiben, wobei als Hauptgewinn ein Fahrrad lockte. Das wollte meine Mutter unbedingt gewinnen. Ich mußte ihr bei der Lösung der Aufgaben helfen, und außerdem sollte ich selbst einen Antwortzettel ausfüllen, um die Chancen zu erhöhen. Meine Mutter gewann das Fahrrad aber nicht, sondern ich! Natürlich kann sie jetzt damit fahren, doch es gehört mir. Andere haben noch einen Koffer in Berlin; ich habe jetzt wieder ein Fahrrad in Wedel.

Jürgen Beyer (Abitur 1984)
http://lepo.it.da.ut.ee/~jbeyer




Jürgen Beyer und Fahrrad Nr. 4 vor der Kirche von Öja, Gotland (man beachte die praktischen Vorrichtungen zum Festbinden der Drahtesel).
Photo: Maarja Kivi.




Erschienen in: Everrist. Kreis der Ehemaligen und Freunde des Johann-Rist-Gymnasiums e. V. 12 (2009), S. 49-52.